Sperrfrist: Ende der Rede
Es gilt das gesprochene Wort!
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
es gehört zu den Traditionen dieses Hauses, dass der Vorsitz jedes Jahr von einem anderen Land übernommen wird. Nachdem jedes Land seit der Wiedervereinigung einmal die Ehre hatte, beginnt mit Mecklenburg-Vorpommern nun alles wieder neu ...
Jeder von uns hat seinen eigenen Stil und Charakter. Jede Präsidentschaft ihre eigene Note. Mit Ihrer gelassenen norddeutschen Art und Ihrem Humor haben Sie, sehr geehrter Herr Kollege Carstensen, nicht nur die Plenarsitzungen, sondern auch die Verwaltung des Bundesrates auf angenehme Weise geführt. Im Namen aller Mitglieder des Bundesrates, aber auch ganz persönlich, möchte ich Ihnen für Ihre umsichtige und besonnene Amtsführung als Präsident dieses Hohen Hauses danken. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesrates schließe ich dabei ausdrücklich in diesen Dank ein – ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen in dem vor uns liegenden Jahr!
Zu den angenehmen Pflichten des Vorsitzlandes gehört es, den Tag der Deutschen Einheit auszurichten. Schleswig-Holstein hat das in diesem Jahr auf besonders eindrucksvolle Art getan. Für diese Gastfreundschaft, lieber Kollege Carstensen, die Sie mir und vielen anderen Bürgerinnen und Bürgern am 3. Oktober anlässlich der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in Schleswig-Holstein erwiesen haben, bedanke ich mich herzlich. Die friedliche und fröhliche Atmosphäre rund um die Kieler Förde war für mich ein Beleg dafür, dass wir, was die Einheit Deutschlands angeht, weiter sind, als von manchen behauptet wird. Gäste aus Ost und West, aus Nord und Süd, aus Städten und Dörfern fanden sich zusammen, um die Vielfalt der Länder zu erleben, um gemeinsam zu feiern und zu erfahren, was die anderen denken und fühlen. Ich finde, es war ein gelungenes Fest der deutschen Einheit und zugleich Ausdruck eines lebendigen Föderalismus. Schon heute lade ich Sie, meine Damen und Herren, für den 3. Oktober 2007 nach Mecklenburg-Vorpommern – in die Landeshauptstadt Schwerin – ein. Ick wür mi bannig freun’, wenn ick Se in’n taukamen Johr bi uns willkamen heiten künn. Schwerin is schön! Wi hebben väl tau wiesen: Dat statsche Schlott, de söben Seen, de schmucken Hüser un all de fründlichen Minschen. Wi sünd in Dütschland de lüttste Landeshauptstadt, äwer wi seggen: Lütt äwer fien! Schwerin ward Se gefalln
.
Sie werden sehen: Nicht umsonst gehören wir zu den beliebtesten Urlaubsregionen in Deutschland. Wenn Sie kurz nach der Wende bei uns waren und dann erneut zu uns kommen, werden Sie feststellen, wie viel sich im Land in den letzten 16 Jahren getan hat. Wenn Sie erst vor einigen Jahren bei uns waren, dann werden Sie hoffentlich sagen: Die sind schon wieder ein Stück vorangekommen. Und wenn Sie noch nie bei uns waren, dann wird es wirklich Zeit für einen Besuch.
Meine Damen und Herren,
vom Ausland her betrachtet ist die deutsche Einigung schon heute eine Erfolgsgeschichte. Natürlich gibt es auch heute noch besondere Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen, die zum Beispiel damit zu tun haben, dass die einen in einer Demokratie groß geworden sind und die anderen nicht. So wird zwar die Demokratie von einer Mehrheit der Ost- und Westdeutschen als die beste Staatsform angesehen, jedoch weit weniger Ost- als Westdeutsche sind mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden. Das mag daran liegen, dass die Demokratie häufig als mühsam und in ihren Entscheidungsprozessen langwierig wahrgenommen wird. Sie befördert den Kompromiss, weniger jedoch klare Entscheidungen. Die Sehnsucht nach verständlicher und verlässlicher Politik aber wächst angesichts des Problemdrucks in Deutschland nicht nur bei vielen Ostdeutschen, sondern auch bei vielen Westdeutschen. Trotz aller Fortschritte und Erfolge, die unzweifelhaft in Deutschland seit 1990 zu verzeichnen sind, belasten uns nach wie vor noch große Probleme. Die Arbeitslosigkeit nenne ich hier an erster Stelle. Auch die Globalisierung bereitet vielen Menschen Sorgen, ebenso der Druck der demographischen Entwicklung auf die Sozialversicherungssysteme. Sie haben Angst, zukünftig zu Verlierern zu werden.
Zugleich ist ein wachsender Vertrauensverlust in ganz Deutschland in Bezug auf die politischen Handlungsträger und die Parteien festzustellen. Immer weniger Bürgerinnen und Bürger vertrauen darauf, dass wir Politiker und die Parteien die Probleme noch lösen können. Hier liegt auch einer der Gründe für die Erfolge der Rechtsextremen, wie wir sie zurzeit bei Landtags- und Kommunalwahlen nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen, sondern auch in anderen Ländern beobachten können. Bei manchen Bürgern ist offenbar die Enttäuschung über das „System“, wie unsere Demokratie mitunter schon wieder genannt wird, so groß, dass man sogar eine Partei wählt, die jede Wahl abschaffen will.
Wir müssen die Wahlergebnisse der Rechtsextremen und vor allem die Ängste und die Gründe der Bürgerinnen und Bürger, die NPD gewählt haben, sehr ernst nehmen und uns damit auseinandersetzen. Es geht darum, den Menschen deutlich zu machen, dass die Rechtsextremen zwar auf alles scheinbar einfache Antworten haben, aber noch nie Lösungen hatten. Nur in der inhaltlichen Auseinandersetzung können wir sie demaskieren. Von den Vertretern der etablierten Parteien ist zukünftig mehr Mut gefordert, auch dahin zu gehen, wo es keine schönen Bilder gibt und Erfolge noch nicht sichtbar sind. Die demokratischen Parteien dürfen das Feld in schwierigen Regionen nicht den Extremisten überlassen – das ist richtig. Aber es ist zu einfach, das Erstarken der Rechtsextremen nur auf das angebliche Versagen der etablierten Parteien zu schieben, wie es verschiedentlich in der aktuellen Diskussion geschieht – zumal auch die großen Volksparteien in Ostdeutschland nur wenig Mitglieder haben. Demokratie bedeutet Verantwortung, und hier ist die gesamte Gesellschaft, sind alle Bürgerinnen und Bürger, gefordert – Familie, Schule, Wirtschaft, Verbände und auch die Medien. Denn Demokratie wird nicht nur durch die bedroht, die sie abschaffen wollen, Demokratie wird langfristig auch aufs Spiel gesetzt durch die, denen sie gleichgültig ist. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Gewinn für jeden Einzelnen in der Gesellschaft. Dies sage ich nicht zuletzt als jemand, der in der DDR anderes erlebt hat. Die Demokratie muss Tag für Tag neu mit Leben erfüllt, die Freiheit gegen ihre Feinde verteidigt werden. Denn Demokratie lebt vom Mitmachen, das kann über eine Partei, eine Bürgerbewegung oder auch nur aktions- oder themenbezogen sein. In der Demokratie sind alle gefordert.
Meine Damen und Herren,
der Einzug der Rechtsextremen in einzelne Landes- und Kommunalparlamente in Deutschland ist das Eine. Das Andere, worüber wir sprechen müssen, ist der generelle Vertrauensverlust gegenüber politischen Institutionen und Handlungsträgern, der breite Bevölkerungsschichten in Deutschland erfasst hat. Denn nur im Vertrauen auf die Zukunft investieren die Menschen in die Zukunft. Die entscheidende Frage lautet also: Wie gewinnen wir Vertrauen zurück?
Ich bin überzeugt, das geht nur Stück für Stück, indem Entscheidungsträger in der Gesellschaft – und hier ist nicht nur die Politik, hier sind auch die Wirtschaft und andere gesellschaftliche Kräfte gefordert – durch glaubwürdiges Handeln die Grundlage dafür legen. Tugenden wie Aufrichtigkeit, Sparsamkeit, Stehvermögen und Verlässlichkeit sind alles andere als altmodisch. Sie müssen im öffentlichen Leben wieder an Bedeutung gewinnen.
Von der Politik, meine ich, erwarten die Menschen vor allem, dass sie ihnen „reinen Wein einschenkt“
und die Wahrheit nicht nur häppchenweise und unter Druck serviert. Das heißt, wir dürfen in der aktuellen Lagebeschreibung nicht immer nur das Positive herausstellen, sondern müssen auch das benennen, was noch nicht in Ordnung ist. Dazu gehört auch, klar zu sagen: Nicht alles, was wünschenswert wäre, ist auch finanzierbar.
Die Politik sollte sich davor hüten, zu hohe Erwartungen zu wecken, die sie dann später nicht einlösen kann. Vertrauen zurückgewinnen kann die Politik nur, wenn sie von vornherein klar sagt, was sie leisten kann und was nicht.
Darüber hinaus stellt die Mediendemokratie hohe Anforderungen an das Verantwortungsbewusstsein aller Akteure. Als Politiker muss man immer wieder neu für sich selbst entscheiden, auf welchen Zug man aufspringt und auf welchen nicht. Die Medien ihrerseits sind gefordert, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Unterhaltung und Information zu finden. Dazu gehört es auch, Klischees zu hinterfragen. Der politische Meinungsstreit zum Beispiel ist ein wichtiger Bestandteil der Demokratie und sollte nicht immer gleich als parteipolitisches Gezänk gewertet werden. Vertrauen braucht solide Information.
Selbstkritisch müssen wir zudem prüfen, ob wir nicht auf allen Ebenen effizienter und sparsamer arbeiten können. Müssen tatsächlich kontinuierlich Ausschüsse des Bundesrates in Bonn tagen, obwohl eine große Zahl der Beamten dazu extra aus Berlin anreisen muss? Sollten wir nicht darüber nachdenken, welche Funktion die Außenstelle Bonn des Bundesrates auf lange Sicht noch haben soll? Es ist Zeit, auch darüber eine Debatte anzustoßen.
Entscheidend für die Akzeptanz unserer Staatsordnung wird jedoch sein, dass Bürger und Arbeitnehmer bei allen Zumutungen, die ihnen mitunter auferlegt werden müssen, den Eindruck haben, dass es dabei gerecht zugeht. Von Seiten des Staates kann es dabei zukünftig weniger um die Verteilung von Geld als vielmehr um die faire Verteilung von Chancen gehen. In der Wirtschaft kann die Maßgabe des Maßhaltens nicht nur für die Arbeitnehmer gelten, sie muss für alle gelten, um als gerecht empfunden zu werden.
Meine Damen und Herren,
im Streit der Meinungen und politischen Interessen geht es bisweilen hart her. Auch das gehört zur Demokratie. Und nicht immer lassen sich die gewünschten Ziele so verwirklichen, wie man es sich erträumt hat. Aber eine gute Politik zeichnet sich eben auch durch Stehvermögen aus.
Dieses Stehvermögen wünsche ich der Bundesregierung, wenn Deutschland demnächst die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Die Erwartungen sind hoch. Wie schwierig es jedoch sein wird, in nur sechs Monaten zu substantiellen Ergebnissen zu kommen, muss ich nicht betonen. Das Voranbringen des Verfassungsvertragsentwurfs steht dabei ganz oben auf der Agenda. Auch andere wichtige Themen wie die Energiepolitik oder der weitere Umgang mit dem Lissabon-Prozess stellen an den Vorsitz erhebliche Anforderungen. Die Länder sind bereit, ihren Teil beizutragen. Wichtig dafür ist, dass die Länder auch während der eigentlichen Vorsitzzeit der Bundesrepublik eng in die inhaltliche Arbeit eingebunden werden und der Bund für umfassende und zeitnahe Information sorgt.
Zugleich können vom deutschen Vorsitz wichtige Impulse zur Überwindung der gegenwärtigen Krise der EU ausgehen. Das Grundvertrauen in den europäischen Einigungsprozess scheint derzeit aufgebraucht, die EU nicht mehr bei den Menschen anzukommen. Wir müssen diese Erkenntnis nutzen, um uns wieder auf die Werte und damit auf das Wesentliche der EU neu zu besinnen. Das ist für mich heute vor allem die friedenssichernde und friedensstiftende Funktion der EU, weil wir in einer Zeit leben, in der der Frieden an verschiedenen Rändern Europas bedroht ist. Diese Funktion sollten wir den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber hervorheben. Auch fragen sich die Bürgerinnen und Bürger, was nützt mir Europa? Denn sie haben oft den Eindruck, es kostet nur. In diesem Vermittlungsprozess mit den Bürgerinnen und Bürgern sind gerade auch die Länder und dieses Hohe Haus gefordert. Das Jubiläum zum Abschluss der Römischen Verträge während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im nächsten Jahr könnte als Anlass dazu genutzt werden.
Meine Damen und Herren,
Stehvermögen braucht die Politik nicht zuletzt, wenn es um die Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung geht. Einig waren und sind wir uns in dem Ziel, klare politische Verantwortlichkeiten zu erreichen. Dazu hat die Föderalismusreform I beigetragen – auch wenn Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein nicht alle Punkte mittragen konnten und infolgedessen mit Ablehnung bzw. Enthaltung votiert haben.
Nun gilt es aber, dass Bund und Länder ihren Beitrag leisten, die neu geschaffenen Rahmenbedingungen der Föderalismusreform auch tatsächlich in zügigere und effizientere politische Entscheidungsprozesse umzusetzen und so mit dazu beizutragen, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Handlungsfähigkeit von Politik zurück zu gewinnen. Auf der politischen Tagesordnung stehen in den nächsten Monaten eine Vielzahl von wichtigen Themen, die von der Funktionsfähigkeit der neu geschaffenen Strukturen profitieren könnten. Dazu gehören die zukunftssichere Umgestaltung des Gesundheitswesens, der Arbeitsmarkt – angefangen bei Problemen im Niedriglohnbereich bis hin zu Anpassungen und Verbesserungen im Hartz IV-Prozess –, Haushaltskonsolidierung, Unternehmenssteuerreform sowie die gemeinsamen Anstrengungen von Bund und Ländern um Fortschritte bei Bürokratieabbau und Deregulierung.
Meine Damen und Herren,
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2006 zur Klage des Landes Berlin wird zur Intensivierung der Diskussion um die Vorbeugung und Bewältigung von Haushaltsdefiziten im Rahmen der Föderalismusdiskussion II beitragen. Die Schlussfolgerungen, die aus diesem Urteil gezogen werden, fallen sicherlich von Land zu Land unterschiedlich aus. Doch wie man das Urteil im Einzelnen auch bewerten mag, es ist Deutschland als Ganzes auferlegt, den Kurs der Haushaltskonsolidierung konsequent fortzusetzen. Manches von dem, was in der Hektik der ersten politischen Statements gesagt wurde, wird sicher auch wieder zu relativieren sein. Auffällig war auch, wie schnell die unterschiedlichen Ideen und Modelle zur Schuldenbegrenzung der öffentlichen Haushalte aus der Tasche gezogen wurden. Und wieder einmal läuft die Politik Gefahr, schnelle und einfache Lösungen zu präsentieren, die es gar nicht gibt.
Wir brauchen im Rahmen der Föderalismusreform II Lösungen, mit denen alle Länder, ob groß oder klein, finanzschwach oder finanzstark, leben können. Meine Empfehlung an dieser Stelle lautet: Wir sollten uns bei den anstehenden Verhandlungen zeitlich nicht unter Druck setzen lassen. Vor allem müssen wir eins beachten: In einem funktionierenden Bundesstaat darf niemals das Gleichgewicht zwischen Wettbewerb und Solidarität verloren gehen. Daher sollte das Finanzpaket, das bis 2019 gilt, meiner Auffassung nach, nicht aufgeschnürt werden. Wir brauchen auch hier Verlässlichkeit, Beständigkeit und Stehvermögen. Daraus erwächst Vertrauen für die Zukunft, in Nord und Süd, in West und Ost. Wir brauchen diese Solidarität in Deutschland. Sie ist der Kern und zugleich der Erfolg des deutschen Föderalismus. Denn nur als Ganzes ist die Bundesrepublik Deutschland stark.
15.306 Zeichen